Přemysl Pitter und die tschechisch-deutschen Beziehungen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts
P. Pitter interessierte sich schon seit Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit für die tschechisch-deutschen Beziehungen, insbesondere in Verbindung mit seinen Aktivitäten in der Bewegung für Aussöhnung zwischen den Völkern, der Liga für Menschenrechte und der christlichen Studentenbewegung (YMCA). Mit seiner Sicht auf die „deutsche Frage“ war Pitter besonders unter dem Einfluss des Philosophen Emanuel Rádl, dem damaligen Vorsitzenden der Menschenrechtsliga, und dessen Buch „Der Krieg der Tschechen mit den Deutschen“ von 1928, worin er den Nationalismus scharf kritisierte und als Gefahr für einen künftigen blutigen Konflikt beider Völker ansah. Pitter strebte im Kreis seiner Freunde, allen nationalistischen Leidenschaften zum Trotz, „gegenseitiges Verstehen und Menschlichkeit“ an. Sein Mitarbeiter in der Bewegung für Aussöhnung zwischen den Völkern Heinrich/Jindřich Tutsch organisierte z. B. einen tschechisch-deutschen Schüleraustausch. Pitter selbst fuhr zu Vorträgen in das Sudetenland, traf sich mit den Menschen und versuchte mit ihnen über ihre Ansichten zu sprechen.
„Ich reiste im Frühling 1938 durch dieses heiße Terrain meiner Heimat, um auch hier die Ansichten der anderen Seite kennenzulernen. Ich kam in ein Gebiet, wo gegenseitiges Misstrauen und feindliche Einstellung allgegenwärtig waren. Ich habe mit unseren Leuten und auch den Menschen aus dem anderen Lager gesprochen und hatte den Eindruck, dass sich beide Seiten ihres Rechts und ihrer Wahrheit sicher waren, und überzeugte mich von ihrer großen Opferbereitschaft, Selbstlosigkeit, Idealismus und Begeisterung. Und doch, welch tiefer Abgrund gähnt zwischen ihnen, ein Abgrund voller Unverständnis, Widerwillen, Voreingenommenheit und Hass!“
Selbstverständlich interessierte er sich auch für die Situation im Ausland. Nach der Machtübernahme durch Hitler 1933 fasste er den Entschluss, sich mit eigenen Augen über die dortige Situation zu informieren, denn die Informationen in der tschechoslowakischen Presse oder von deutschen Emigranten schienen ihm tendenziös und einseitig. Im August 1934 fuhr er erneut nach Deutschland und traf sich mit seinen dortigen Freunden. Er bemühte sich die Deutschen nicht pauschal zu verurteilen und hob vielmehr jene Züge heraus, die die „Masaryk“-Demokraten und die „Hitler“-Undemokraten gemein hatten. Seine Eindrücke von beiden Reisen publizierte er in der Zeitschrift Sbratření (Verbrüderung).
Beispiele der Reisefragmente:
1934 – Die zwei Gesichter Deutschlands, Sbratření, Jahrgang X., 1934, Nr 9 (103), S. 2 – 6
• Ich hatte Gelegenheit einen Abend mit einer Lehrerin zu verbringen, einer überzeugten Anhängerin Hitlers, die die Ideologie des Nationalsozialismus leidenschaftlich verteidigte. Sie sagte: „Wir sind viele, die sehr unter einigen Erscheinungen im heutigen Deutschland leiden. Ich betrachte die Juden als minderwertige, dekadente Rasse, aber schon aus pädagogischen Gründen bin ich nicht damit einverstanden, schlechtes Verhalten gegenüber jüdischen Kindern zu dulden, und das insbesondere in der Schule. An einer Grundschule in Leipzig tadelte die Lehrerin eine Schülerin vor der Klasse, weil diese sich einer jüdischen Mitschülerin gegenüber schlecht benommen hatte und damit auch andere dazu aufstachelte, dem unglücklichen jüdischen Mädchen eine wahre Hölle zu bereiten. Das getadelte Mädchen hat sich jedoch beschwert, woraufhin die Lehrerin in ein Konzentrationslager geschickt wurde.“ Und nach einer Weile Schweigens fügte sie hinzu: „Auch ich würde so wie meine Kollegin handeln…“
• Wenn Sie durch Deutschland fahren, so sehen Sie zahlreiche Baracken, die Unterkunft für Formationen des Arbeitsdienstes sind, die überall neue Straßen, Meliorationen usw. bauen. In der Nähe der Städte entstehen Kleingartenkolonien, auf dem Lande genossenschaftliche landwirtschaftliche Siedlungen. Arbeiter, bisherige Arbeitslose, bekommen angeblich den Unterhalt für sich und die Familie, Arbeitskleidung oder Uniform, zahlreiche Vergünstigungen beim Einkauf, kostenlose Beförderung von und zum Arbeitsort und einen kleinen Geldbetrag. Unter strenger Aufsicht der Vorarbeiter wird acht Stunden täglich gearbeitet. Wer faulenzt, kommt als Volksschädling in ein Konzentrationslager…. Der Organisation der Sozialfürsorge wird angeblich große Aufmerksamkeit geschenkt, was auch ein starkes Argument des heutigen Regimes ist, mit dem er auch bei seinen Kontrahenten teilweise Sympathien gewinnt. Einer meiner Informanten sagte, dass wenn die früheren Regierungen nur einen Bruchteil der unternehmerischen Energie des heutigen Regimes an den Tag gelegt hätten, dann wäre es in Deutschland nicht zu diesem Zerfall gekommen und es stünde heute als konsolidierter Staat in Europa dar.
1935 – Die zwei Gesichter Deutschlands, Sbratření, Jahrgang XI., 1935, Nr 5 (111), S. 2 – 5
• „Es scheint, dass die Leute sich an das nationalsozialistische Regime gewöhnt und ihm angepasst haben. Ihr Interesse an Politik ist nur noch marginal… Unerträglich ist das gegenseitige allumfassende Misstrauen und die Angst, angezeigt zu werden. … Wer meine Informationen im Vorjahresartikel mit den heutigen vergleicht, begreift, dass es schwer ist eine objektive, gerechte Bewertung zu gewinnen.“
1938 – Eindrücke aus dem jetzigen Österreich, Sbratření, Jahrgang XIV., 1938, Nr 5 (143), S. 3 – 6
• „Ich habe mich mit elf Freunden getroffen… Was das tschechisch-deutsche Problem betrifft, so habe ich auf die Fehler der tschechischen Politik verwiesen, die die demokratischen Elemente unter den Deutschen nicht hinreichend unterstützte und deren gerechten Forderungen nicht mit mehr gutem Willen entgegenkam. Damit wurden nazistische Elemente unterstützt, deren Druck sie jetzt nachgeben muss. Jedes solche Zurückweichen bedeutet jedoch einen Triumph von Nazismus und Gewalt. Dennoch muss man auch jetzt ohne Rücksicht auf die Umstände das tun, was gerecht ist. …in Österreich herrscht die allgemeine Überzeugung, dass die Tschechoslowakei bald der Macht Hitlers unterliegen wird.“
• „Dr. M. ist Gymnasialprofessor und konnte seine Existenz nur damit retten, dass er im Konflikt mit seinem Gewissen und mit Rücksicht auf die Familie den Treueeid für Hitler leistete, der mit den Worten beginnt: „Ich schwöre bei Gott, meinem Führer Adolf Hitler in Treue zu folgen.“ Er ist innerlich zusammengebrochen.“
1938 – Auf heißem Boden, Sbratření XIV, 1938, Nr. 7/8 (145-146), S. 3 – 6
Eindrücke von Reisen durch das Sudetenland – stets traf er sich mit Vertretern beider Seiten – Tschechen und Deutschen.
• „Dass die nationalistischen Sudetendeutschen mit einer Angliederung an Deutschland rechnen, bestätigte mir eine sehr gebildete Frau, Mitglied unserer Friedensbewegung, deren Gatte einen großen Betrieb in den westböhmischen Bädern besitzt. Sie selbst ist reinrassige Deutsche, ihr Mann Jude. Ihre beiden Brüder sind führende Vertreter der Partei Henleins. Die Familie dieser Dame drängte sehr darauf, dass sie sich von ihrem Mann scheiden ließe, obwohl sie in einer schönen Ehe leben, ein Kind haben und ihr Mann die ganze Familie ausgiebig unterstützt. Die Mutter und die Brüder raten ihr inständig, wenn sie ihn schon nicht verlassen will, dann doch so bald wie möglich das Land zu verlassen. Diese Frau sagte mir, dass die Brüder ein Verzeichnis der Leute haben, die nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten „kaltgestellt“ werden sollen und es wurden schon Personen bestimmt, die sofort verantwortliche Posten einnehmen sollen. Sie kennen auch genaue Details unserer militärischen Situation.“